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Von Stampa nach Zürich

Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie

Inhalt

Als der Rezensent dieses Buches sein Rechtsstudium an der Universität Basel aufnahm, standen im Bereich des schweizerischen Staatsrechts nur drei umfassendere, mehr oder weniger aktuelle Werke zur Verfügung, nämlich in chronologischer Reihenfolge: Walther Burckhardt: Kommentar der Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, dritte Auflage 1931; Zaccaria Giacometti: Staatsrecht der Kantone 1941 und Zaccaria Giacometti: Bundesstaatsrecht 1949. Wohl allen, die damals an einer deutschschweizerischen Universität Rechtswissenschaft studierten, war Giacometti ein Begriff, auch wenn die Mehrzahl von ihnen ihm nie persönlich begegnet sein dürften und sich von seiner Person kein Bild machen konnten. Einen solchen Grad an Bekanntheit, wie er ihn hatte, dürfte heute wohl kein Rechtsprofessor mehr erreichen. Angesichts seiner Ausstrahlung und der noch lange andauernden Wertschätzung überrascht nicht, dass Kley 44 Jahre nach Giacomettis Hinschied eine umfassende Biographie vorlegt. Der Titel tönt bereits die beiden Eckpunkte in Giacomettis Leben an: Stampa und Zürich. Doch das Buch holt viel weiter aus: Zunächst schildert es die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Bergells im 19. Jahrhundert, des Tales, in dem er geboren wurde und in dem er auch begraben ist. Das Bergell hat nebst seiner Entfernung von grösseren Zentren eine Besonderheit, die vielen nicht bekannt ist: Es ist trotz italienischer Sprache reformiert, also eine Minderheit im italienischen Sprachgebiet und dadurch auch von der natürlichen Fortsetzung talwärts, dem katholischen Chiavenna, durch Religion und Kultur getrennt. Der Verfasser des Buches arbeitet an zahlreichen Stellen heraus, wie sich die reformierte Religion und diese besondere Stellung des Heimattales auf die Denkweise und auf die Lehre Giacomettis auswirken mochten: Sein späterer Antikatholizismus, die nüchterne Argumentation und die unbeirrbare Haltung, wenn er etwas einmal als richtig erkannt hatte, sind Beispiele. Giacomettis Person versteht nicht richtig, wer nicht seine zahlreiche und bedeutende Verwandtschaft in die Darstellung mit einbezieht. Zaccaria Giacometti war über die väterliche Seite mit dem bedeutenden Maler Giovanni Giacometti verwandt (gemeinsame Urgrosseltern). Überdies waren seine Mutter Cornelia Stampa und Annetta Stampa, Giovanni Giacomettis Gattin, Schwestern. Die Verwandtschaft zur Malerfamilie bestand also auf väterlicher wie auf mütterlicher Seite. Kley gibt dieser Verwandtschaft breiten Raum und zeigt, wie sich die gegenseitigen, zum Teil engen Beziehungen im Lauf der Jahrzehnte gestalteten. Die betreffenden Seiten bieten faszinierende Einblicke. Eine zusätzliche Bedeutung erhielt die Verwandtschaft aus folgendem Grund: Zaccaria Giacometti wurde früh Vollwaise. Daher traten Verwandte an die Stelle seiner Eltern. Mit seiner Tante hatte er bis zu deren Tod im Jahr 1964 engeren Kontakt. Die Stammbäume der Familien Giacometti und Stampa in den Innenseiten des Buchdeckels erleichtern das Verständnis der verwandtschaftlichen Beziehungen sehr. Zaccaria Giacometti war also früh auf sich gestellt. Der Autor schildert anschaulich den Werdegang des jungen Mannes, wie er eine für sein Alter ungewöhnliche Reife, Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit zeigte, die sogar bereits während seiner Ausbildung am Evangelischen Lehrerseminars in Schiers, mehr noch in seinem juristischen Studium bei seiner Umgebung nicht unbemerkt blieben. An der Universität Zürich fand er rasch den akademischen Lehrer, der ihn in jeder Weise fördern sollte: Fritz Fleiner, einen damals führenden Vertreter des schweizerischen öffentlichen Rechts. Nach kurzem Abstecher in die Privatwirtschaft erkannte Giacometti, dass akademische Lehre und Forschung seine Lebensaufgabe sein würde. Bereits mit 31 Jahren hielt er Vorlesungen, und drei Jahre später wurde er zum vollamtlichen Extraordinarius gewählt. Als sein Mentor altershalber zurücktrat (1936), folgte er diesem auf dem Lehrstuhl. Er versah die üblichen Ämter akademischer Selbstverwaltung und wurde nach längerem Widerstreben für die Jahre 1954 bis 1956 Rektor. Im Folgenden sei auf einige Schwerpunkte seiner Tätigkeit eingegangen. Schon zu Beginn stand das Staatskirchenrecht im Vordergrund. Hier trat er mit Nachdruck für eine Trennung von Kirche und Staat ein und publizierte eine Sammlung der diesbezüglichen Rechtsquellen. Als Vorbild dienten ihm die Kantone Basel-Stadt und Genf. Allerdings fanden seine diesbezüglichen Bestrebungen keinen Erfolg. Die Zeit war für solche Überlegungen noch lange nicht reif, schon gar nicht in den Kantonen mit überwiegend katholischer Bevölkerung. So wurde ihm auch in der Literatur klar widersprochen. Obwohl reformiert, stand ihm das katholische Kirchenrecht wegen seiner klaren, in sich geschlossenen Ordnung nahe. Zaccaria Giacometti trennte scharf zwischen Recht und Politik. Er äusserte sich, wie Kley an zahlreichen eindrücklichen Beispielen zeigt, ausschliesslich zu rechtlichen Fragen, die er streng nach seinem Verständnis abhandelte. Er liess alle politischen Erwägungen, mochten sie noch so sehr auf der Hand liegen, auf der Seite. Dennoch fanden seine Überlegungen vielleicht wegen seiner Gradlinigkeit bei zahlreichen Politikern, und zwar vor allem bei nichtbürgerlichen, Gehör. Dies erklärt sich aus den Umständen der Jahre seines hauptsächlichen Wirkens: Es waren die wirtschaftlich schwierige Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, die militärische Bedrohung während des Krieges und das erste Jahrzehnt nach dessen Ende, in dem die Schweiz zur Normalität zurückfinden musste. Der Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit des Parlaments erklärten, angesichts der wirtschaftlichen Situation und während des Krieges wegen der Bedrohung, könnten sie nicht mehr nach den Zuständigkeitsregeln gemäss Verfassung handeln, sie griffen zu Dringlichkeitsrecht und während des Krieges zu eigentlichem Notrecht. Der Bundesrat erhielt ausserordentliche Vollmachten und insbesondere die Rechte der Stimmberechtigten wurden enorm zurückgedrängt. Die Behörden trauten der Urteilskraft des Volkes nicht, und im übrigen war es ja auch so bequem, ohne die Unsicherheit von Volksabstimmungen zu regieren. Zaccaria Giacometti nahm gegen diese Aushöhlung der Bundesverfassung den Kampf mit allen Kräften auf, unermüdlich bezog er Stellung. Kleys Buch erlaubt dem Leser, die staatsrechtliche Entwicklung von 1930 bis 1950 quasi von Giacomettis Warte aus mitzuerleben. Der Leser erlebt mit, welchen Einfluss bei den Politikern Giacometti dank seiner Unermüdlichkeit und dank seiner Ehrlichkeit erringen konnte, dass seine Bestrebungen, Mahnungen, seine (seltenen) Reden zwar lange Zeit nicht gehört wurden, schliesslich aber nach dem zweiten Weltkrieg von Erfolg gekrönt waren. Um solcher Missachtung der verfassungsmässigen Ordnung vorzubeugen, propagierte Giacometti immer wieder die Einführung einer beschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesstufe: Es sollten alle Erlasse des Bundes, die nicht durch Volksabstimmung angenommen worden sind, auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden können. Hier blieb ihm jeder Erfolg versagt. Auch die Bundesverfassung 1999 hat in dieser Beziehung nichts Neues gebracht (Art. 190). Kley schildert sodann ausführlich, welche Ideen und Lehrmeinungen seinen Hauptwerken, insbesondere den eingangs genannten, zugrunde liegen, welche Ziele sie verfolgten, inwieweit sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden und ob sie auf Zustimmung stiessen. Nicht alle Werke erzielten den gleichen Erfolg. Nicht nur das Werk, auch der Mensch Giacometti kommt immer wieder zum Zug. Er selbst machte sehr wenig Aufheben um seine Person und war stets bescheiden und zurückhaltend. Ein zündender Redner scheint er nicht gewesen zu sein. Er forderte von den Studierenden viel, suchte aber auch den näheren Kontakt zu ihnen. Kley konnte ein aufschlussreiches und eindrückliches Bild zeichnen, da er glücklicherweise viele Briefe verschiedener Personen, natürlich auch von Giacometti beiziehen, sozusagen aus dem Vollen schöpfen und alles zu einem vielfarbigen Bild verweben konnte. Tragisch, ja traurig stimmt, wie eine Krankheit 1961 Giacometti zwang, abrupt seine berufliche Tätigkeit zu beenden, sich insbesondere von seiner geliebten Lehrtätigkeit zu verabschieden. Auch den zweiten Band seiner Allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts konnte er nicht mehr erarbeiten. Manch anderes aus diesem aussergewöhnlich reichen Buch wäre ebenfalls näherer Erwähnung wert. Immerhin noch dieses: Der Band liest sich trotz seines Umfangs wegen der gut verständlichen Sprache angenehm und flüssig. Einen guten Einblick in Giacomettis Arbeit geben auch die Übersichten am Schluss des Buches: Biographien, ausführliche Gratulationen und Nachrufe zu Zaccaria Giacometti. Ein umfassendes Werkverzeichnis, getrennt nach Monographien und Büchern, Herausgeberschaften, Aufsätze und [spärlichen] Vorträge, Gutachten, Zeitungsartikel, Rezensionen von Giacometti und Rezensionen über Giacomettis Werke. Verzeichnis der von Zaccaria Giacometti angekündigten Vorlesungen. Verzeichnis der von Zaccaria Giacometti betreuten Dissertationen. Tabellarische Biographie von Zaccaria Giacometti. Kurzbiographien verschiedener im Buch erwähnter Personen. Zaccaria Giacometti ist wiederholt von seinem Onkel Giovanni und von seinem Cousin Alberto porträtiert worden. Sehr viele Bilder sind im Buch wiedergegeben, nebst einigen weiterer Personen. Dieser überaus reich dokumentierte und lesenswerte Band kann Juristen, Historikerinnen, Kunsthistorikern und allen, die spannende Einblicke in die bedeutenden Familien Giacometti und Stampa erhalten wollen, sehr zur Lektüre empfohlen werden. Dr. Herbert Plotke/24. Juli 2014

Bibliografische Angaben

Mai 2014, 538 Seiten, Deutsch
Schulthess
978-3-7255-6485-9

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