Die germanistische Literaturwissenschaft hat sich im Zuge des ,spatial turn' äußerst produktiv mit dem Raum als Interpretament literarischer Texte auseinandergesetzt. Um den Raum als Analysekategorie im Bereich der Mediävistik weiter zu fundieren, erscheint es lohnend, die literaturwissenschaftliche Raumforschung in der Auswertung und Weiterentwicklung der Vorarbeiten auf eine solide theoretische und methodische Basis zu stellen, um von dort aus ein möglichst breit anwendbares Interpretationsinstrumentarium für die Analyse der Raumdarstellung in mittelalterlicher Erzählliteratur zu entwickeln.
Welche neuen Perspektiven eine raumbezogene Interpretation auf die mittelhochdeutsche Erzählliteratur eröffnen kann, demonstriert eine exemplarische Analyse des ,Nibelungenliedes'. Hierbei erweist sich die Raumdarstellung im Sinne eines alternativen Kohärenzmusters als Modus eines (synchronen) Erzählens, welches den Untergang der nibelungischen Welt auf geographischer, topographischer und kommunikativer Ebene begründet, einleitet, betreibt und schließlich auch zeigt.