In der sozialpolitischen und -wissenschaftlichen Diskussion wurde Armut lange Zeit als verfestigtes psychisch-sozial-ökonomisches Syndrom verstanden. Die neuere Forschung sieht Armut dagegen als begrenzten Zustand materieller Minderausstattung eines bis weit in die Mittelschicht hineinreichenden und fluktuierenden Personenkreises.
Auf der Grundlage einer repräsentativen bundesweiten Befragung analysiert Kurt Salentin soziale Einflüsse auf das Verhalten einkommensschwacher Personen in ökonomischen Belastungssituationen. Er zeigt, dass ökonomische Benachteiligung zu erhöhtem emotionalem Stressaufkommen führt und dass Arme unter sonst gleichen Bildungs- und Altersvoraussetzungen ihre Stressoren ebenso sachadäquat wie der Bevölkerungsdurchschnitt bewältigen. Der Autor bestätigt damit die Grundannahme der neueren Armutsforschung, weist aber zugleich der Scham bei der Verarbeitung ökonomischer Probleme eine zentrale Bedeutung zu: Die Furcht vor Bloßstellung und vor dem Verlust des Ansehens wiegt vielfach schwerer als rationale Überlegungen und blockiert die für viele Lösungsstrategien notwendige Mobilisierung sozialer Unterstützung.