Als der
Kupferstecher und Verleger Theodor de Bry
1590 den ersten Band seiner
America
-Reihe herausgab, war die Neue Welt für die meisten Europäer in der Tat ganz neu und der Hunger nach Bildern entsprechend groß. Die
prachtvoll illustrierten Reiseberichtsammlungen
, die der in Lüttich geborene und nach Stationen in Straßburg, Antwerpen und London in Frankfurt ansässig gewordene de Bry (1527/28–1598) zusammen mit seinen Söhnen realisierte und überaus erfolgreich vermarktete, boten den zeitgenössischen Lehnstuhlreisenden
die damals aktuellsten Bilder und aufsehenerregendsten Berichte von diesem fabelhaften Doppelkontinent kolonialer Möglichkeiten.
De Bry und seine Söhne waren selbst nie in der Neuen Welt. Sie stellten aus den
Reiseberichten von Kolonisten, Forschungsreisenden und Abenteurern wie Thomas Harriot, Girolamo Benzoni oder Sir Walter Raleigh
koloniale Konvolute zusammen, für die sie protoethnografische Darstellungen von tatsächlichen Augenzeugen wie John White, Gründer der „verschwundenen“ Roanoke-Kolonie, oder dem Maler Jacques LeMoyne de Morgues adaptierten oder, wo Bildmaterial fehlte, die eigene Fantasie spielen ließen. So vielfältig die Quellen waren, aus denen die de Brys sich bedienten, so komplex und heterogen war das Bild der Neuen Welt, das die Amerika-Serie zeichnete. Idealisierte edle Wilde, die in einer fruchtbaren, paradiesischen Landschaft die Gaben der Zivilisation – Gott und Glasperlen – dankbar entgegennehmen, stehen neben Szenen furchtbarer Massaker, begangen von nun barbarischen Indigenen, aber auch von den Truppen konkurrierender Kolonialmächte. Die Stiche der de Brys prägten die europäische Wahrnehmung der beiden Amerikas nachhaltig, einige von ihnen, wie die Darstellung von der
Landung des Kolumbus oder das den Mythos von Eldorado begründende Bild des
Indio Dorado
, wurden zu
Bildikonen, die sich noch heute in fast jedem Schulbuch oder Lehrbuch zur amerikanischen Geschichte finden.
Von „Virginia“ (dem heutigen North Carolina) und Florida, durch Zentralamerika bis hinunter nach Patagonien
zeigen die ersten neun Bände von
America
Landschaften, fremdartiges Kulturinventar und erste Begegnungen zwischen indigener Bevölkerung und Europäern.
TASCHENs Ausgabe zeigt
alle 218 Bildtafeln dieser neun Bände mitsamt ihren jeweiligen Frontispizen und Karten.
Die Bände I bis VI basieren auf den handkolorierten Originaldrucken, die in den John–Hay- und John-Carter-Brown-Bibliotheken an der Brown-Universität in Providence aufbewahrt werden; die Vorlagen für die Bände VII bis IX stammen aus der Staats- und Stadtbibliothek in Augsburg. Die Kupferstiche der de Brys mitsamt ihrer Bildlegenden sind
Kunstwerke von außergewöhnlicher Qualität
und in ihrer Komplexität auch heute noch
spannend zu dechiffrierende Dokumente des frühen Kolonialdiskurses.