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07.09.2022

Welche Rolle hat die Politik im Familienrecht?

Interview mit Prof. Dr. Regina E. Aebi-Müller

Liebe Frau Aebi-Müller, der Gesetzgeber ist im Familienrecht besonders gefordert, gilt es doch, gesellschaftliche Entwicklungen aufzunehmen, aber zugleich auch eine gewisse Ordnung zu halten. Wie sehen Sie die derzeitige Entwicklung?
Aus meiner Sicht liegt eine grosse Schwierigkeit für den Gesetzgeber darin, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Familienformen gleichzeitig Rechnung zu tragen. Eine vordergründig einfache Lösung bestünde darin, mehr Wahlfreiheit und Flexibilität zuzulassen, anstatt von den tradierten Familienmodellen auszugehen. Dabei besteht allerdings – wie wir das aus anderen Rechtsgebieten kennen, etwa dem Miet- oder dem Arbeitsrecht – die Gefahr, dass eine wenig informierte oder strukturell schwächere Partei unwissentlich oder unter Druck einer Lösung zustimmt, die sich später als unvorteilhaft, vielleicht sogar als unfair herausstellt. Daher scheint mir zentral zu sein, dass der Gesetzgeber sehr sorgfältig arbeitet und sich von raschen gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Forderungen nicht zu hastigen, unüberlegten Gesetzgebungsvorhaben drängen lässt, die schon kurze Zeit später wieder «auskorrigiert» werden müssen.


Könnten hier nicht die Gerichte eine vermittelnde Funktion einnehmen, sodass der Gesetzgeber nur noch einen groben Rahmen vorgeben müsste, der dann durch die Gerichte flexibel ausgefüllt werden könnte?
Das ist tatsächlich eine Möglichkeit, und von dieser hat der Gesetzgeber ja unlängst im Zusammenhang mit dem Betreuungsunterhalt Gebrauch gemacht. Nur: Ob die Gerichte dann den Spielraum so ausfüllen, wie der Gesetzgeber sich das erhofft hatte, kann sehr fraglich sein. Und überdies geraten die Gerichte in eine Rolle, die ihnen eigentlich in unserem System der Gewaltenteilung nicht zukommen sollte. Familienrechtliche Regeln, die letztlich die ganze Bevölkerung in zentraler Weise betreffen, sollten in einem demokratisch legitimierten Prozess austariert und ausdiskutiert und nicht «in Lausanne» von einem Richtergremium entschieden werden.


«Ehe für alle», Patchworkfamilien, Leihmutterschaft sind grosse Herausforderungen für die Rechtsetzung: Was ist gelungen, und wo gibt es noch Arbeit?
Persönlich habe ich den Eindruck, dass die «Ehe für alle» zwar für alle Betroffenen, die lange darauf gewartet und gehofft haben, ein grosser und wichtiger Schritt ist. Im eigentlichen familienrechtlichen System gab es aber – wie schon der kurze Gesetzestext zeigt – keine grösseren Umwälzungen. Ein zentrales Gesetzgebungsprojekt der nächsten Jahre wird das Abstammungsrecht sein. Die Leihmutterschaft ist dabei nur eines von vielen Themen.


Und dann ist das Familienrecht des ZGB endlich wieder auf dem aktuellen Stand und ein gutes Arbeitsinstrument für alle Familienrechtler/innen?
So würde ich das nicht formulieren. Was mich zunehmend stört, ist die starke Fragmentierung, die durch die zahlreichen Revisionen entstanden ist – und zu denen ein neues Abstammungsrecht vermutlich auch wieder beitragen wird. Die Gesamtsystematik des Familienrechts, insbesondere des Kindesrechts, ist mittlerweile nur noch schwer durchschaubar und auch den Studierenden kaum zu vermitteln. 


Neue BG-Entscheide zur nachehelichen Unterhaltsberechnung: es herrscht jetzt Klarheit, oder?
Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass jetzt viele «Pflöcke eingeschlagen» sind. Persönlich begrüsse ich den klaren Kurs in Richtung einer stärkeren Vereinheitlichung der Methodik. Ob auch inhaltlich alles so stimmig ist, darüber streitet sich die Lehre gerade sehr, und ich habe mir auch noch kein abschliessendes Urteil gebildet – und auch die jüngsten Urteile lassen Fragen offen oder werfen sogar neue auf.


Zehn Jahre einheitliche ZPO in der Schweiz und doch auch gewisse Unterschiede zwischen den Kantonen: Ist dies auch im Familienrecht zu sehen?
Ja, das ist tatsächlich so. Noch immer hängen viele Kantone an ihren eigenen, überkommenen Regeln. Ich rate jedenfalls jeder Person, die anwaltlichen Rat braucht, im zuständigen Kanton eine (Fach-)Anwältin zu suchen, welche die «Spielregeln» der dortigen Gerichte kennt und nicht versehentlich durch ungeschickte Formulierungen und Anträge der Gegenpartei in die Hände spielt oder ein Gericht verärgert. Die Unterschiede sind nach meiner Wahrnehmung aber kleiner geworden, auch dank dem Eingreifen des Bundesgerichts.


Familienrecht hat eine Steuerungsfunktion und immer auch eine moralische Komponente. Wohin entwickelt sich das schweizerische Familienrecht?
Tatsächlich ist das eine ganz wichtige Frage: Soll das Familienrecht eine Steuerungsfunktion haben oder nicht? Das sieht man ja im Moment gerade ganz aktuell bei der Revision des Steuerrechts, wenn es um die Frage der Individualbesteuerung geht. Das ist auch Familienrecht im weiteren Sinne – und hat eine zentrale Steuerungsfunktion. Wollen wir mehr Familien, in denen beide Elternteile mit ähnlichen Pensen erwerbstätig sind? Oder wollen wir bewusst eine «klassische» Rollenteilung begünstigen? Wie viel Steuerung ist da zulässig, ab wann wird es zur Bevormundung? Das sind Fragen, die sich jede Generation neu stellen muss. Die Diskussion zum Steuerrecht zeigt, dass mit raschen Entwicklungen zu einer egalitären Rollenverteilung jedenfalls kaum zu rechnen ist. Grundsätzlich ist die Tendenz aber klar und auch erfreulich: vielfältigere Familienformen und mehr Gestaltungsspielräume für alle Familienmitglieder.

 

Die Fragen stellte Stephan Kilian, ehemaliger Programmleiter Juristische Medien, Stämpfli Verlag