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06.09.2022

Kein Stein blieb auf dem anderen!

Interview mit Prof. Dr. Ingeborg Schwenzer zur Entwicklung des Schweizerischen Familienrechts

Liebe Frau Schwenzer, als sich meine Mutter im Jahr 1975 für eine Arbeitsstelle beworben hat, brauchte sie die schriftliche Erlaubnis ihres Ehemannes, dass sie arbeiten dürfe. Seither hat sich im Familienrecht einiges verändert. Was sind die grössten Meilensteine?
Seither ist im Familienrecht praktisch kein Stein auf dem anderen mehr geblieben. Nahezu alles hat sich verändert. Um nur die wichtigsten Meilensteine zu nennen: das Kindesrecht (1978), das Güterrecht (1988), das Ehe- und Scheidungsrecht (2000), das Recht der eingetragenen Partnerschaft (2007), Name und Bürgerrecht der Ehegatten (2012), der Kindes- und Erwachsenenschutz (2013), das Recht der elterlichen Sorge (2014), das Kindesunterhaltsrecht (2017) bis zur Ehe für alle (2022).


Wie hat sich das Bild von «Familie» geändert? In der Politik, in der Öffentlichkeit, in der Rechtsetzung und in der Rechtsprechung?
In den 1970er- und 1980er-Jahren war das Bild von Familie in allen Bereichen noch eindeutig statusgeprägt. Die Ehe zwischen Mann und Frau war die einzig legitime Lebensform, und alle ausserhalb der Ehe existierenden Verbindungen wurden diskriminiert, wenn nicht sogar lange Zeit kriminalisiert. Der Mann war das Oberhaupt und der finanzielle Versorger der Familie. Die Frau war für Haushalt und Kinder zuständig. In sämtlichen Bereichen hat inzwischen ein grundlegendes Umdenken stattgefunden. Eheliche und nicht eheliche Kinder sind weitgehend gleichgestellt, Frauen und Männer werden jedenfalls im Familienrecht weitgehend gleichbehandelt, und auch die 
geschlechtliche Orientierung stellt heute zumindest rechtlich grundsätzlich kein Problem mehr dar. Die Realität sieht freilich oft noch anders aus. Nach wie vor gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen vor allem im Erwerbsleben; queere Menschen erfahren vielfältige faktische Diskriminierungen.


Wie viele Jahre und in welchen Bereichen hinkt der Gesetzgeber der gelebten Wirklichkeit hinterher?
Das ist schwer zu sagen, denn die gelebte Wirklichkeit stellt sich in der Schweiz natürlich sehr unterschiedlich dar, je nachdem ob der Blick auf die städtischen Agglomerationen oder auf ländliche Gebiete gerichtet ist. Generell wird man davon ausgehen können, dass es in der Schweiz sicher 20 bis 30 Jahre dauert, bis sich relevante gesellschaftliche Veränderungen auch in Reformen des Familienrechts niederschlagen. Was derzeit ansteht ist eine grundlegende Überarbeitung des Abstammungsrechts. Leider werden wohl die sehr bedenkenswerten Vorschläge der Expertenkommission nicht umgesetzt, sondern man begnügt sich – einmal mehr – mit Randkorrekturen. Auch für nicht eheliche Lebensgemeinschaften und Patchworkfamilien hält das Schweizer Recht derzeit (noch) keine angemessenen Regelungen bereit.


Sie haben auch eine enorme internationale Erfahrung (dieses Interview wurde während eines Lehraufenthalts von Frau Schwenzer in Porto Alegre und São Paulo, Brasilien, geführt). Wo sehen Sie die Schweiz im internationalen Kontext im Familienrecht positioniert?
Gemeinsam mit Deutschland und Österreich stellt die Schweiz gewissermassen das Schlusslicht der internationalen Entwicklung dar. Zeitgemässe und realitätsangemessene Lösungen finden sich vor allem im angloamerikanischen oder im skandinavischen Recht.


Wenn Sie die 1. Auflage des FamKomm Scheidung aus dem Jahr 2005 mit der aktuellen 4. Auflage vergleichen – was fällt Ihnen auf?
Da fällt zunächst der schiere Umfang auf. von ca. 1500 Seiten in der 1. Auflage ist der Kommentar auf fast 2600 Seiten in zwei Bänden angewachsen. Mit diversen zusätzlichen Anhängen, zum Beispiel zur ZPO, zur Vermögensplanung oder zur Vollstreckung, werden nunmehr nahezu alle familienrechtlichen Fragen der Praxis abgedeckt. Alleinherausgeber ist jetzt Prof. Dr. Roland Fankhauser, der diese Aufgabe mit grosser Bravour gemeistert hat. Auch im Autor/innen-Team haben jüngere, äusserst kompetente Professor/innen und Praktiker/innen übernommen. Seinem ursprünglichen Ansatz ist der Kommentar treu geblieben. Er verbindet in idealer Weise hohes wissenschaftliches Niveau, Praxisrelevanz und Interdisziplinarität und verspricht damit weiterhin, das Standardwerk zum Thema Scheidung in der Schweiz zu bleiben.

 

Die Fragen stellte Stephan Kilian, ehemaliger Programmleiter Juristische Medien, Stämpfli Verlag