Das Verbot der Doppelbestrafung (»ne bis in idem«) ist ein fundamentaler Grundsatz des modernen Strafprozesses, der in nahezu jeder Rechtsordnung enthalten ist. Die Ausgestaltung dieser grundlegenden rechtsstaatlichen Garantie wirft im Rahmen des Kartellsanktionsrechts in Europa einige Fragen und Probleme auf. Die Aufdeckung und Bebußung grenzübergreifender Kartelle haben in den letzten Jahren im Umfang deutlich zugenommen. Spiegelbildlich ist das Bedürfnis der betroffenen Unternehmen nach einem angemessenen verfahrensrechtlichen Schutz ausgeprägter geworden. Angesichts einer zunehmend dezentralen Anwendung der europäischen Wettbewerbskontrolle und möglicher paralleler Sanktionen auf Ebene der Mitgliedstaaten stellt sich vermehrt die Frage, ob das Doppelbestrafungsverbot der mehrfachen Ahndung kartellrechtlicher Wettbewerbsverstöße in verschiedenen Jurisdiktionen entgegensteht. Diese Frage berührt nicht nur das Verhältnis von Europäischer Gemeinschaft und Mitgliedstaaten, sondern auch das Verhältnis der verschiedenen Sanktionssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten zueinander sowie zu Drittstaaten.
In der Dissertation wird diskutiert, ob sich das Verbot der Doppelbestrafung auf das kartellrechtliche Bußgeldverfahren übertragen lässt und ob es auf Unternehmen als juristische Person wesensmäßig anwendbar ist. In einem ersten Teil werden die rechtlichen Probleme thematisiert, die sich aus der Kooperation dezentral operierender nationaler Wettbewerbsbehörden ergeben, während der zweite Teil auf die verfahrensrechtliche Relevanz des Grundsatzes »ne bis in idem« und seine Auslegung im europäischen Recht eingeht. Am Ende steht die Ablehnung einer direkten oder analogen Anwendung des »ne bis in idem«-Grundsatzes auf das Kartellsanktionsrecht. Dieses Ergebnis dürfte - angesichts des uneinheitlichen Meinungsstandes - die wissenschaftliche Diskussion weiter beflügeln. Für die Praxis bedeutsam wird zudem aufgezeigt, dass die Unternehmen gleichwohl nicht schutzlos sind: Ihnen stehen die allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien zu Gebote, die in jedem kartellrechtlichen Verfahren zu beachten sind.
Abstract des Autors:
Die internationale Wettbewerbspolitik wird im Allgemeinen durch die Konvergenz der nationalen Rechtsordnungen und das Bemühen um eine verstärkte Kooperation der einzelstaatlichen Kartellbehörden geprägt. Eine besondere Bedeutung haben in den letzten Jahren die Aufdeckung und die Abschreckung grenzübergreifender Kartelle und vergleichbar schädlicher Wettbewerbsbeschränkungen erlangt. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass mit einer Verschärfung des Kampfes gegen Kartelle das Bedürfnis der Unternehmen nach angemessenem verfahrensrechtlichem Schutz zunimmt. Das gilt v.a. in grenzüberschreitenden Kartellverfahren, etwa im dezentralen Vollzug der Wettbewerbsregeln innerhalb der Europäischen Union. So werden die Art. 81, 82 EG durch ein Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden vollzogen, das auf einem System paralleler Zuständigkeiten und dem Vertrauen in die Vergleichbarkeit der Rechtsordnungen seiner Mitglieder beruht. Dem Netzwerk gehören sowohl die Europäische Kommission als auch die nationalen Kartellbehörden an, die einander zu enger Zusammenarbeit im Rahmen der Ermittlungen und zum Austausch belastender Informationen und Beweismittel verpflichtet sind. Verfahrensrechtliche Beschränkungen folgen hauptsächlich aus den Gemeinschaftsgrundrechten im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EU sowie aus der programmatischen, zurzeit noch unverbindlichen Grundrechtecharta. Ein Wesensmerkmal des dezentralen Rechtsvollzugs bilden die parallelen Verfahren und Sanktionen mehrerer nationaler Stellen anlässlich derselben Tat. Dieser Umstand hat